„Recht und Gerechtigkeit – Ein Märchen aus der Provinz“, so der Titel des Buches, geschrieben von Jörg&Miriam Kachelmann. Es beginnt mit den Worten: „Oje, nicht schon wieder, werden Sie sagen, nicht schon wieder der Kachelmann1.“. Diese wenig einladenden Worte haben auch ihren Grund: Der „Fall Kachelmann2“ ist seit März 2010 in den Medien präsent.
Doch was ist eigentlich „Der Fall Kachelmann“?
Zumindest zum Teil ist er auch ein Märchen aus der Provinz. Die Provinz ist hier in Schwetzingen angesiedelt, ein Ort den vor der Verhaftung Kachelmanns wahrscheinlich nur wenige auf der Landkarte gefunden hätten. Das Märchen ist nichts anderes, als die Geschichte einer falschen Verdächtigung und die Unfähigkeit Tatsachen ins Auge zu blicken. Der „Fall Kachelmann“ ist ein Beispiel für einen Showprozess, für menschliche Verfehlungen und nur ein trauriges Beispiel für viele Mängel innerhalb des Justizapparates.
Fehlurteile gibt es, das liegt an der Beteiligung von Menschen in der Justiz.Niemand kann von sich behaupten nie ein Fehlurteil gefällt zu haben. Wenn aber ein Teil des Justizapparates einen Weg beschreitet, der genau genommen vom ersten Schritt an zum Scheitern verurteilt war, dann ist das in den meisten Fällen auch der Verlust einer Existenz. Jörg Kachelmann hat am eigenem Leib erfahren, was es heisst einer falschen Verdächtigung ausgesetzt zu sein. Er hat auch erfahren, was es bedeutet seiner Existenz beraubt zu werden. Darüber hat er, zusammen mit seiner Frau, ein Buch geschrieben – „Ein Märchen aus der Provinz“.
Jörg Kachelmann wurde im März 2010 am Frankfurter Flughafen festgenommen. Grund für die Festnahme war eine Anzeige wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung einer Frau aus Schwetzingen. Kachelmann habe, so der Tatvorwurf, die Frau vergewaltigt und mit einem Küchenmesser verletzt. Der Grund soll das Entdecken vorangegangener Untreue und das Beenden der Beziehung gewesen sein. Auf 383 Seiten beschreiben Jörg und Miriam Kachelmann die Verhaftung, die Zeit der U-Haft und den Prozess. In sieben Teilen ist das Verfahren chronologisch aufgebaut. Jeder der Teile gewährt Einblick in das Verfahren, was kurzerhand alle Grundsätze des Strafprozesses ausser Kraft gesetzt hat, Einblicke in menschliche Fehler und das Unvermögen zu diesen zu stehen.
Im ersten Teil verarbeiten sowohl Jörg, als auch Miriam Kachelmann die Verhaftung am Frankfurter Flughafen. Sie beschreiben die, zunächst surreale, Situation aus ihrer persönlichen Sicht. Während Miriam Kachelmann mit nur wenigen Informationen am Ort des Geschehens zurückbleibt, wird Jörg Kachelmann in Frankfurt der Haftrichterin vorgeführt. Anschließend wird er in die JVA Mannheim verbracht. Im zweiten Teil des Buches beschreibt er die 132 Tage andauernde Haft. Er räumt mit einigen Vorurteilen bezüglich der Umstände einer U-Haft auf und zeigt ein hartes Bild der Realität in der JVA Mannheim. Mit seiner Freilassung Ende Juli 2010 beginnt der dritte Teil. Wer glaubt, Herr Kachelmann habe die Freiheit in vollen Zügen genossen wird enttäuscht sein. Sowohl im dritten als auch im vierten Teil schreibt er von den schwierigen Umständen seiner „Freiheit“, von der Notwendigkeit sich verstecken zu müssen, von traurigen Momenten in denen die Realität ihn einholt und von Versuchen sich wenigstens manchmal wie ein ganz normaler, freier Mensch fühlen zu dürfen.
Der fünfte Teil trägt den Titel „Der Prozess beginnt“ – im September 2010 begann das Verfahren gegen Jörg Kachelmann vor dem LG Mannheim. Obwohl zu diesem Zeitpunkt längst die Erkenntnisse vorlagen, die später zum Freispruch führten, wurde das Verfahren eröffnet und mit allem Drum und Dran geführt. Leider zum größten Teil außerhalb der Grundsätze der StPO. Die Fakten, die Kachelmann allein in diesen Kapiteln niedergeschrieben hat, sollten jedem Leser das Vertrauen in das Rechtssystem (zumindest in Mannheim) auf der Stelle rauben. Begonnen bei Befangenheitsanträgen, über diffuse Zeugenlisten bis hin zu Befragungstechniken, die weit außerhalb der Wahrheitsfindung liegen. So kam es dann auch zu einer Welle in der Berichterstattung, als Jörg Kachelmann entschieden hat den bisherigen Verteidigern Birkenstock und Schroth das Mandat zu entziehen und dem Strafverteidiger Schwenn anzuvertrauen. Warum diese Entscheidung richtig war beschreibt er im sechsten Teil – Die Wende.
Die Wende ist auch ein sehr passender Titel für das Folgende. Mit Schwenn nahm der Prozess eine Wendung. Kein Wunder: Schwenn gilt als streitbarer Verteidiger, der kein Blatt vor den Mund nimmt und Dinge gern beim Namen nennt. Kachelmann beschreibt die schwierige Entscheidung hin zum Verteidigerwechsel, die Problematik der Medienberichterstattung und das teilweise schwierige Unterfangen die Öffentlichkeit in einem Prozess herzustellen, der eigentlich außerhalb dieser stattfinden sollte. Es gab einen Freispruch, aber damit ist der „Fall Kachelmann“ nicht abgeschlossen. Auch die vierte Gewalt des Staates – die Medien – waren über den gesamten Zeitraum von der Verhaftung bis zur Urteilsverkündung „dabei“. Kachelmann schreibt über die Medien und deren Auffassung von Neutralität. Die medienrechtliche Seite ist in Form einer Auflistung der Verfahren, betreut von Ralf Höcker, als Anhang im Buch zu finden. Die Litigation-PR findet sich insbesondere im sechsten Teil des Buches.
Den Abschluss macht Miriam Kachelmann im siebten Teil. Sie schreibt über die Defizite des Justizsystems. Anhand der konkreten Beispiele aus dem Prozess ihres Mannes zeigt sie die Schwachstellen auf und gibt Anreize zur Verbesserung. Insbesondere die Problematiken einer Falschbeschuldigung und „Aussage gegen Aussage“ sind hier aufgeführt. Es geht nicht um eine Reformierung des Systems, es geht um eine Verbesserung der vorhandenen Umstände – hin zu einem neutralen Verfahren (so wie die StPO es verlangt).
Im Namen der Rezensorin ergeht folgendes Urteil:
Es gibt wenige Bücher die mich wirklich überraschen – dieses gehört zweifelsohne dazu. Angesichts der flächendeckenden Berichterstattung zum Kachelmann-Prozess habe ich eher eine Abrechnung als ein derart reflektiertes Buch erwartet. Im deutschen Strafrecht gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ – Im Zweifel für den Angeklagten. Das lernt der Jurastudent schon in den ersten Semestern. Auch gelten für die Medien Grenzen in Form der Persönlichkeitsrechte. Beides wurde im Kachelmann-Prozess ausser Kraft gesetzt. Mit welcher Wucht Herr Kachelmann aus seinem Leben gerissen wurde wird beim Lesen dieses Buches klar. Er macht kein Geheimnis aus der Ohnmacht, die ihn überkam, angesichts dieser Lawine an Angriffen auf seine Existenz. Dieser Prozess ist leider nur ein Beispiel für die Handlungsweise der Staatsanwaltschaften und Gerichte. Und leider auch nur eines von vielen für die Vorverurteilungskampagnen in den Medien. Welche Macht Medien haben können wird in diesem Buch deutlich, aber auch wie mühsam es ist sich dagegen zur Wehr zu setzen. Man kann darüber streiten, ob Herr Kachelmann sich in seiner Lebensweise moralisch stets „gut“ verhalten hat, dieses steht aber niemandem – außer ihm selbst – zu. Denn mehrere Beziehungen parallel zu führen erfüllt noch lange keinen Straftatbestand. Aber eine Falschanschuldigung tut es. Angesichts der – zum Zeitpunkt der Verhaftung und insbesondere der Eröffnung des Verfahrens bereits bekannten – Beweislage, hätte dieser Prozess nicht stattfinden dürfen. Eklatante Mängel in der Aussage der Anzeigenerstatterin, Gutachten, die allesamt den geschilderten Tathergang für nicht wahrscheinlich oder sogar ausgeschlossen halten und die Art und Weise der Prozessführung lassen nur einen Schluss zu: Da wusste jemand einfach nicht mehr wie er aus der Nummer herauskommen sollte. Anders lässt sich diese Verschwendung von Zeit, Akten und Geld nicht erklären. Besonders erschreckend: Während Kachelmann seiner Existenz beraubt wurde, gab es auf der „anderen Seite“ Beförderungen. Ein lesenswertes Buch, insbesondere für diejenigen, die glauben das Justizsystem wäre unfehlbar und stets im Recht.
Jörg&Miriam Kachelmann
Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz
Heyne Verlag
ISBN: 978-3453200258
19,90 € (Hardcover);15,99 € (Kindle); 15,99 € (eBook)
- Jörg&Miriam Kachelmann, Recht und Gerechtigkeit, S.7. ↩
- vgl. Kachelmann-Prozess, Wikipedia, zuletzt abgerufen am 11.05.2015. ↩
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